Mein Arbeitsplatz, meine Sekte!

Mein Arbeitsplatz, meine Sekte!

In vielen modernen Unternehmen, Behörden und Institutionen ist der Leitsatz längst angekommen: „Probleme sind auch Chancen!“ Wer sich heute am Arbeitsplatz über zu hohe Arbeitsbelastung, ineffiziente Prozesse oder zwischenmenschliche Reibereien beklagt, bekommt oft prompt ein freundliches „Sieh’s doch mal positiv!“ zurück. Der Gedanke dahinter – das sogenannte Reframing – ist im Grundsatz sinnvoll: Es geht darum, auch in schwierigen Situationen nach neuen Perspektiven zu suchen. Doch was passiert, wenn dieses Prinzip übertrieben und zur Regel wird? Schnell kann aus konstruktiv gemeinter Lösungsorientierung eine Atmosphäre entstehen, die mehr an eine Glaubensgemeinschaft erinnert – und in der wahre Konflikte nur noch unter der Oberfläche gären. Besonders dann, wenn mehreren Abteilungen zugearbeitet werden muss.

Toxische Positivität: Wenn Reframing zum Zwang wird

Es klingt zunächst angenehm: Ein kollegiales Umfeld, in dem immer ein positiver Spin gefunden wird. Doch Vorsicht – zu viel Reframing kann eine sogenannte „toxische Positivität“ erzeugen. In solchen Kulturen gelten echte Kritik, Ärger oder Zweifel plötzlich als unproduktiv oder gar schädlich. Wer Frust offen anspricht, gilt schnell als Problemverursacher. Das eigentliche Ziel, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten, schlägt ins Gegenteil um: Negative Gefühle werden nicht mehr ernst genommen, sondern schlichtweg wegreframed. Das Resultat ist eine Fassade der Harmonie, hinter der sich Unsicherheit und Ärger anstauen – getreu dem Motto: „Alle haben sich lieb.“ Für kritische Geister fühlt sich das irgendwann sektenartig an, weil offene Kritik oder ehrliche Negativität keinen Platz mehr haben.

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Verdrängte Konflikte: Die Flucht vor dem Problem

Das größere Risiko liegt jedoch darin, dass das eigentliche Problem nicht mehr wirklich bearbeitet wird. Reframing ersetzt die notwendige Ursachenforschung durch scheinbare Lösungsfähigkeit. Statt beispielsweise zu fragen, warum ein Prozess immer wieder scheitert, wird stolz verkündet: „Wunderbar, noch mehr Gelegenheit für Innovation!“ – und dann das Thema damit für erledigt erklärt. Doch oberflächliche Lösungen halten selten lange. Die wahren Gründe für Ärger und Frust bleiben unbearbeitet und tauchen beim nächsten Anlass umso heftiger wieder auf.

Wie Führungskräfte gesund führen

Eine gesunde Unternehmenskultur braucht beides: Raum für ehrliche Emotionen und konstruktive Perspektivwechsel. Führungskräfte sollten nicht zur Reframing-Maschine werden, sondern den Mut haben, negative Gefühle und Kritik zunächst zuzulassen. Erst wenn der Ursprung eines Problems ernsthaft analysiert wurde, kann ein gemeinsames Neudenken echte Innovation und Veränderung freisetzen. Wer stattdessen alles nur schönredet, riskiert, dass das Unternehmen zur „Sekte“ wird – nach außen harmonisch, im Inneren konfliktgeladen.

Wertevolle Führungstechnik
Reframing ist wertvoll – aber nur, wenn es nicht zur Pflichtübung verkommt. Echte Lösungen brauchen die Konfrontation mit der Realität, nicht deren Verleugnung. Wer am Arbeitsplatz nur noch fake smiles sieht, sollte sich fragen: „Mein Arbeitsplatz, meine Sekte?“

Sollte man es auch „richtig krachen lassen“ bei Konflikten?

Ganz ehrlich? Ja, manchmal schon. Das klingt ungemütlich, ist aber im Kern ziemlich gesund – zumindest, wenn man dabei nicht die Werkzeuge aus der Steinzeit rausholt. Denn dauernde Harmonie ist ungefähr so ehrlich wie die Anzeige bei leerer Fernbedienung: Leuchtet zwar noch, aber der Impuls kommt nicht mehr richtig durch.

Wer Konflikte ständig weichspült, läuft Gefahr, dass die eigentlichen Themen unter dem Teppich landen – und dort machen die dann Party, bis es irgendwann von ganz allein knallt. Offen und mit Nachdruck mal klarzumachen, was stört, sorgt im Team nicht etwa für schlechte Laune, sondern für Luft zum Atmen. So wie ein kurzer Stromstoß: Dann läuft das System wieder rund.

Natürlich heißt das nicht, die Höflichkeit über Bord zu werfen und den Kollegen mit Argumenten zu bewerfen wie mit Konfetti auf dem Betriebsausflug. Aber pointiert und ehrlich zu sagen, was Sache ist – und das ruhig mal mit Nachdruck – kann heilsam sein. Das bringt die echten Probleme ans Licht und schafft das, was “Good Vibes Only” eben nie schafft: Respekt und Vertrauen.

Mein Pragmatiker-Fazit: Besser einmal ordentlich ruckeln – dann kann’s weitergehen. Schlechte Stimmung auf Dauer auszublenden, ist wie Software-Fehler kleinzureden. Wenig überzeugend – und meistens auch wenig nachhaltig.

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